Autor und Wissenschaftsjournalist Thomas de Padova

Fünf Fragen an Thomas de Padova

Lieber Herr de Padova, Alles wird Zahl – der Titel Ihres Buchs klingt beinahe poetisch, ist aber auch sehr wörtlich zu verstehen. Welche Geschichte verbirgt sich dahinter?

Ähnlich wie die Poesie ist die Mathematik dazu imstande, die Wirklichkeit in verdichteter Form abzubilden. Das macht sie seit jeher zu einer besonderen Inspirationsquelle des menschlichen Denkens. Vor allem aber seit der Renaissance, die sowohl die Geometrie der griechischen Antike für sich entdeckte als auch die Ziffern und Rechentechniken der arabischen Welt. Erst mit den neuen Zahlen setzte sich auf dem europäischen Kontinent das schriftliche Rechnen durch. Erst in der Renaissance erwachte die Mathematik in Europa.

Sie sprechen in Ihrem Buch auch von der „anderen Renaissance“, einer unbekannten Seite einer uns eigentlich sehr vertrauten Epoche. Was zeichnet diese andere Renaissance aus, die wir bislang vernachlässigt haben?

Wir verdanken der Renaissance neben dem Buchdruck zwei bedeutende Kulturtechniken: zum einen die Erfindung der Zentralperspektive, also jener geometrischen Bildsprache, die der Malerei eines Leonardo da Vinci zugrunde liegt und die unsere gesamte visuelle Kultur bis heute prägt, von der anatomischen Zeichnung über die Fotografie bis hin zur Computergrafik; in der Renaissance entwickelte sich zudem eine mathematische Formelsprache inklusive Plus- und Minuszeichen, Malpunkt oder Wurzelzeichen, die wir seither benutzen. Und zwar überall auf der Welt. Bild- und Formelsprache bereiteten den modernen Wissenschaften den Boden.

Wie kommt es, dass dieses Kapitel der Mathematikgeschichte bislang so wenig Beachtung gefunden hat?

Renaissancekünstler wie Piero della Francesca oder Albrecht Dürer schrieben bahnbrechende mathematische Werke. Gerade Dürer verstand seine Lebensspanne als eine Zeit der „widererwaxsung“ von Kunst und Mathematik. Dennoch klammern moderne Bücher über die Renaissance das mathematische Erbe dieser Epoche aus. Mir ist das völlig schleierhaft. Sind die Berührungsängste in punkto Mathematik so groß?

Die mathematischen Entwicklungen, die Sie beschreiben, kommen einer wissenschaftlichen und auch weltanschaulichen Revolution gleich. Und sie wirken bis heute nach. Welche Aspekte unseres heutigen Lebens wären ohne die Renaissance der Mathematik nicht denkbar?

Wenn Sie heute ein Regal oder eine Lampe zusammenbauen möchten, dann finden Sie in den Gebrauchsanleitungen keine langen Beschreibungen, sondern Bilder, die Ihnen die wesentlichen Schritte vor Augen führen. Es sind die perspektivischen Zeichentechniken der Renaissance, die Explosivzeichnungen Leonardos, die dies ermöglichen. Aus unserem Alltag sind sie nicht mehr wegzudenken. Ein anderes Beispiel: Zu Beginn der Corona-Epidemie sprachen plötzlich alle von „exponentiellem Wachstum“. Dem Renaissancegelehrten Michael Stifel, einem der Protagonisten meines Buchs, verdankt sich die Bezeichnung „Exponent“. Und die Erkenntnis, wie man mit solchen Exponenten rechnet. Unsere Welt ist durchdrungen von den mathematischen Errungenschaften jener Zeit.

Was sagen Sie all jenen, die sich noch mit der Schulmathematik im Hinterkopf vor Zahlen, Geometrie und Algebra – und damit vielleicht auf vor Alles wird Zahl – fürchten?

Die Renaissance geht unserer Schulmathematik voraus. Für Alles wird Zahl braucht man kein Schulwissen. Das Buch lädt vor allem dazu ein, die schillernde Epoche einmal mit anderen Augen zu betrachten, zu entdecken, wo Zahlen und Algorithmen ihre Ursprünge haben, wie kaufmännisches und mathematisches Denken seinerzeit ineinandergreifen und wie sich Kunst und Wissenschaft wechselseitig befruchten.